Translate

Montag, 6. Februar 2012

Streit um Alfred Döblins Biografie

Eine große Biografie über den vielseitigen Autor von Berlin Alexanderplatz war überfällig, nun liegt sie vor und die Enttäuschung ist groß. Christina Althen, Generalherausgeberin von Döblins Werken, übt heftige Kritik an Winfried F. Schoellers 900-Seiten-Buch, dieser wirft in einer Replik der Döblin-Forschung Versäumnisse vor. Der letzte lebende Sohn des Dichters sieht ebenfalls die Notwendigkeit einer Richtigstellung im Rezensionsforum literaturkritik.de. Wir haben die Biografie bereits vor dieser Kontroverse für das literaturblatt kritisch rezensiert:


Kobold der Moderne
von Michael Bienert

Der Lektor muss tief geschlafen haben. Schon in der Einleitung von Wilfried Schoellers Biografie liest man über Döblins Schreibfleiß: „Dieses Werk ist kaum zu überblicken allein wegen des Umfangs, der um einiges mehr, als Thomas Mann geschrieben hat.“ Wie bitte? Nicht mal brüllende Rhetorik vermochte das Hanser-Lektorat aufzuwecken: „Vor der stampfenden Wucht dieser Dichtung verschwindet alle Literatur. Wir paar Menschen, die wir in der Berliner Sezession vor dem Rednertisch saßen, fühlten es alle: da steht nicht einer über den Dingen, die er am Schreibtisch zerdacht hat; da steht ein Mann vor seinem Werk, selbst halb zerdrückt davon und wie erschrocken.“ Drei Seiten später liest man das Zitat über eine Döblin-Lesung von 1922 wortwörtlich nochmal, ohne jeden Mehrwert. Sicher, so was passiert, wenn ein Autor sein 2000-Seiten-Manuskript auf 900 Druckseiten herunterkürzen muss. Aber dass der führende deutsche Literaturverlag es für überflüssig fand, alle Zitate nachzuprüfen: Das kann doch nicht wahr sein!

Diese Schluderei macht wütend, weil es hier um ein überfälliges Standardwerk zur deutschen Literaturgeschichte geht. In ihr steht der Schriftsteller Alfred Döblin gleichrangig neben den Zeitgenossen Kafka, Brecht, Musil oder dem verachteten Rivalen Thomas Mann. An eine wirklich umfassende Biografie hatte sich vorher niemand herangetraut, aus vielen Gründen. Abschreckend wirkt schon der Umfang von Döblins Gesamtwerk mit seinen dicken Romanen, die mal im Dreißigjährigen Krieg, in China, am Amazonas oder in Berlin spielen. Schwer verdaulich sind seine weltanschaulichen Bücher und seine Hinwendung zum Katholizismus im Alter. Um seine medizinischen Schriften richtig einzuschätzen, müsste sich ein Biograf auch in Psychiatrie und innerer Medizin auskennen.
Neben seiner Tagesarbeit als Kassenarzt brilllierte Döblin Anfang der Zwanziger Jahre als scharfzüngiger Feuilletonist. Vor dem Ersten Weltkrieg schon gehörte er zu den Mitbegründern einer urbanen, sprachavantgardistischen Gegenwartsliteratur, in der Weimarer Republik setzte er sich wie wenige für eine den demokratischen Staat stützende Kulturpolitik ein. Auch deswegen wurde Döblin 1933 ins Exil getrieben, wo er unermüdlich weiterschrieb. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg ins zerstörte Deutschland zurückkehrte, schlug ihm so viel Ablehnung und Desinteresse entgegen, dass er ein zweites Mal nach Paris emigrierte.
Vom Geburtsort Stettin in die Wahlheimatstadt Berlin, nach Paris, Amerika und wieder zurück in den deutschen Südwesten führte diese Lebensreise, auch das eine Herausforderung für einen Biografen. Heikel war zudem der Umgang mit der Familiengeschichte, ohne die Döblins Biografie nicht nachvollzogen werden kann: Lange gab in der Emigrantenfamilie gut gehütete Tabus, besonders um Döblins 45-jährige schwierige Ehe und sein Verhältnis zu der Geliebten Yolla Niclas, der er sich bis zu seinem Tod verbunden fühlte.
Welch ein gewaltiger Stoff für einen großen Ehe- und Familienroman, aber auch für einen Epochenroman über die literarische Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts! Der Literaturkritiker Winfried F. Schoeller jedoch ist kein Epiker wie Döblin, sondern eher ein Liebhaber der kleinen feuilletonistischen Form. Er löst die großen Spannungsbögen in eine Perlenkette kurzer Kapitel auf. Das macht den schwer konsumierbaren Stoff sehr bekömmlich, lässt aber auch nie das Gefühl aufkommen, man müsse dieses Buch ganz durchlesen.
Schoeller nähert sich Döblin mit einer angenehmen Mischung aus Empathie und kritischem Blick: In den großen Romanen sucht er nach biografischen Fermenten, die schnoddrigen autobiografischen Selbstauskünfte Döblins befragt er danach, was dahinter an Schmerz und Angst verschwiegen sein könnte. Schoeller hat sich tief in die Quellen, insbesondere den Marbacher Nachlass, eingegraben, daher gelingt ihm die Korrektur mancher Legenden: So kann er nachweisen, dass sich der Berliner Senat 1953 ernsthaft Mühe gegeben hat, den Hinfälligen zurück ins sein geliebtes Berlin zu holen.
Döblin wollte die Literatur aus einer bildungsbürgerlichen Sphäre in den modernen Alltag zurückholen, mit Umtriebigkeit, Beweglichkeit, entgrenzter Fantasie und Lust an der Provokation. Schreibend hat er eine Freiheit vorgelebt, die immer noch ansteckend wirkt, aber auf die Dauer auch ermüden kann. Dass Schoellers Biografie eine gewisse Erschöpfung verrät, passt ins Gesamtbild: Döblin ist kein Autor, mit dem einer fertig werden kann.

Wilfried F. Schoeller
Alfred Döblin
Eine Biographie
München 2011: Hanser Verlag
912 Seiten, 
Preis: 34.90 €

Erstdruck: literaturblatt für baden-württemberg, Heft 1/2012

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen