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Montag, 4. Juni 2012

Im Theater (34): "Der eingebildete Kranke" mit Martin Wuttke an der Volksbühne


Es war einmal ein gefürchteter Freibeuter des deutschen Theaters, der überwarf sich mit seiner ruhmreichen Mannschaft, die so manches endlose Seegefecht für ihn entschieden hatte. Im Unfrieden gingen die besten Kämpfer von Bord, seither herrschte ein Kommen und Gehen auf dem Schiff. Niemand verstand mehr den Kurs, den der ewige Kapitän Castorf steuerte, und es schien nur eine Frage der Zeit, bis ihn ein Sturm vom Steuerplatz des matt dahin dümpelnden Seglers fegte.
Seine Seehelden heuerten auf anderen Schiffen an, einige übten sich dort im Steuern und Navigieren, mit Erfolg. Nach vier, fünf Jahren packte sie die Sehnsucht, es noch einmal mit ihrem alten Käptn zu versuchen. Sie kehrten als Steuerleute in seine verjüngte  Mannschaft zurück und siehe, plötzlich blähten sich auf dem lahmen Kahn wieder prächtig die Segel.
In aller Kürze ist das die jüngste Geschichte der Berliner Volksbühne unter ihrem seit 20 Jahren amtierenden Intendanten Frank Castorf. Vor einem Jahr bescherte ihr die ehemalige  Stammkraft Herbert Fritsch einen Riesenerfolg mit dem schrillen Schwank „Die s(p)anische Fliege“, eingeladen zum diesjährigen Theatertreffen. Nun ist auch der vor vier Jahren vom  Volksbühnenberserker zum „Tatort“-Kommissar mutierte Martin Wuttke wieder an Deck, als Schauspieler und Regisseur. Ermutigt durch Fritschs Erfolg bei Publikum und Kritik setzt die Volksbühne voll auf Komödie: Zum ersten Mal seit 20 Jahren kommt wieder Molière auf den Spielplan.
„Zum Totlachen“ steht riesengroß auf dem rot-weiß gestreiften Vorhang einer Jahrmarktbude, die weit in den Zuschauerraum vorragt. Dass der Akzent mehr auf dem Tod liegt als auf dem Lachen, macht ein Gerippe mit Stundenglas im Giebelfeld des Theaterchens klar. Ein vierschrötiger Ansager (Hendrik Arnst) brüllt wie auf dem Rummelplatz ins Publikum: „Le malade imaginaire!“ Dann hebt sich der Vorhang und gibt den in die nicht sehr tiefe Guckkastenbühne frei.

Links sitzt die Hausangestellte Toinette (Margarita Breitkreiz) und spricht schwer verständlich einen Text von Artaud vor sich hin: „Du musst sterben!“ Sie trägt Dienstmagdkleidung und ein weißes Häubchen, passend zu dem schwarz-weiß Interieur, das eine bürgerliche Wohnstube der Molière-Zeit vorstellt. In einem Sessel lagert eine leichenblasse Gestalt mit leblos herabhängendem Arm wie der tote Marat in seiner Badewanne – nicht die einzige Anspielung auf Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts an diesem Abend.
Aus der Totenstarre erwacht der hypochondrische Argan hüstelnd zu neuem Leben. Ein klappriger Greis, der, in Fahrt gekommen, zum stockschwingenden Springteufel wird. Geifernd, schnarrend und bellend könnte er auch die gealterte Hitlerfigur sein, die Martin Wuttke seit 1995 in seiner Paraderolle als Arturo Ui im Berliner Ensemble spielt. Jaulend geht er auf Französisch seine Arztrechnungen durch. Das muss aufhören, deshalb soll sein Töchterchen Angelique einen Arzt heiraten, der dann immer um ihn ist.
Angelique (Lilith Stangenberg) klimpert mit ihren riesigen angeklebten Augenwimpern wie eine Puppe. Sie ist Fleisch von Argans Fleisch, eine genauso virtuose Schauspielerin, die im richtigen Moment ohnmächtig hinsinken und sich mausetot stellen kann. So selbstsüchtig wie der Vater verfolgt sie ihr Interesse: “Ich brauche einen Mann, der sich nur um mich kümmert, denn ich bin ja zu nichts in der Lage.”
Eine Gesellschaft von Egoisten bevölkert die enge Bühne, hier gibt es kein Gut und Böse, nur rücksichtslose Selbstbezogenheit. Die geldgierige Schwiegermutter Beline (Brigitte Cuvelier) sieht hinreißend elegant aus unter ihren rotgoldenen  Locken, dabei muss sie Mitleid erregend in einem altertümlichen Rollstuhl über die Bühne geschoben werden. Man hält es für einen schlauen Regieeinfall – und bemerkt erst beim Schlussapplaus den Gipsfuß der Schauspielerin unterm Rockzipfel. Die beiden Bewerber um Angelique – der verkopfte Arztsohn Thomas (Maximilian Brauer) und der dunkelhäutige Bohemien Cleant (Abdoul Kader Traroré) – versuchen durch artistische Kunststückchen ans Ziel zu kommen, ohne sich damit als besonders gutherzig zu profilieren. Mit dem französischen Tänzer Jean Chaize als Arzt und dem bewährten kanadischen Volksbühnenmusikus Sir Henry im Hintergrund ist die multikulturelle, vielsprachige und vielfarbige Besetzung komplett: Aus dem Migrationshintergrund der meisten Mitspieler ergibt sich ganz zwanglos, dass in dieser Aufführung immer mal wieder die Sprache und der Akzent wechseln.
Martin Wuttke mit seiner Lust an grotesker Hässlichkeit und virtuosen Slapsticks ist natürlich der Star des Abends, doch er ist auch ein sensibler Regisseur, der seine Mitspieler richtig gut neben sich aussehen lässt. Eine sorgfältig choreografierte Ensembleszene mit kreisenden Suppentellern und Schöpflöffeln gehört zu den schönsten des Abends, in einer anderen wird Argan mit einem riesigen Klistier von hinten traktiert, bis ihm die Körpersäfte aus dem Mund und den Ohren spritzen. Ganz lustig, doch so richtig zum Schenkelklopfen ist das alles nicht.  
Der Abend ist wie auf Schwarz gemalt, hinter den Späßen scheint nichts auf, was den Figuren und den Zuschauern irgendeine Orientierung geben könnte. Es lastet ein intellektueller Überbau auf der Inszenierung, der sich von Artaud und der Psychoanalyse herschreibt, aber nicht durchsichtig wird. Wuttke spannt die Komödie des 17. Jahrhunderts mit dem “Theater der Grausamkeit” des 20. Jahrhunderts zusammen, das ist momentweise ganz erfrischend, doch insgesamt wirkt es unentschieden. Als habe Wuttke es Molière und Artaud gleichermaßen recht nachen wollen, doch die Rechnung geht nicht auf.
Er nimmt sich die Freiheit, ganz langen Ende der Inszenierung vom Guckkastentheater auf Live-Videoübertragung mit Nahaufnahmen der Gesichter umzuschalten. Die Schauspieler und Kameraleute machen das virtuos, warum also nicht? Aber dann ist fast abrupt Schluss, kaum zwei Stunden sind vergangen und zurück bleibt das Gefühl: Hoppla, ist jetzt Pause, müsste da nicht noch was kommen?
Vielleicht folgt die Fortsetzung am nächsten Freitag, dann soll schon die nächste Wuttke-Premiere an der Volksbühne über die Bühne gehen. In „Der Geizige“ von Molière wird er spielen und Frank Castorf Regie führen. Dass dem Gespann damit ein Coup gelingt, ist keineswegs ausgemacht. Auch in den besten Jahren der Volksbühne lagen Volltreffer und Fehlschläge ganz dicht beieinander.

ERSTDRUCK: Stuttgarter Zeitung vom 4. Juni 2012

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