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Montag, 27. Mai 2013

Schlemihl in Berlin

Am vergangenen Sonntag hatte der Dichter, Naturforscher und Weltreisende Adelbert von Chamisso in der ARD einen großen Auftritt, in der Sendung Druckfrisch lobte Denis Scheck die opulente Neuausgabe von Chamissos Bericht  Reise um die Welt. Am Mittwoch beginnt eine dreitägige wissenschaftliche Konferenz über Chamisso in der Humboldt-Universität, zum Entspannen an der frischen Luft unternehmen wir mit den Teilnehmern am Freitagabend einen literarischen Spaziergang ins Berlin der Romantik. Das große Projekt der Digitalisierung des Chamisso-Nachlasses in der Staatsbibliothek fördern wir schon seit Jahren und das von uns redigierte Chamisso-Forum hat sich als Internetplattform für den Austausch der Experten untereinander etabliert. Weitere Publikationen zu den beiden Schlemihl-Jubiläumsjahren (Chamissos berühmtestes Buch wurde 1813 geschrieben und erschien 1814) sind in Vorbereitung...

Donnerstag, 16. Mai 2013

Im Theater (48): "Linie 8" im BKA

Die Immobilienhaie sind scharf auf Nordneukölln, das bekommen die Mieterinnen eines heruntergekommenen Hauses in der Nogatstraße aufs unangenehmste zu spüren: Die Hartz-IV-Empfängerin Edith Schröder (Ades Zabel) fliegt aus ihrer Wohnung, während ihre Freundinnen Jutta und Biggi sich von der Gentrifizierung ihres Kiezes bessere Geschäfte versprechen. Die eine (Bob Schneider) will ihre Eckkneipe in ein schickes Futschi-Lokal umbauen, stellt aber auf der Bank fest, dass die ihr ganzes Erspartes verzockt hat und landet auf einem Esoterik-Trip. Die andere (Biggy van Blond) will ihre Legginsboutique ganz groß auf Facekook und auf "Rollberg-TV" herausbringen, dafür lässt Biggi eigens ihre Brüste vergrößern. Edith haust auf der Straße und in der U-Bahn, bis ein schwuler U-Bahn-Fahrer (Nicolai Tegeler) ihr den Schlüssel zu einem still gelegten Abfertigungshäuschen auf dem U-Bahnhof Hermannplatz aushändigt. Sie gründet eine Protestpartei, unterstützt von der Türkin Hatice (Stefan Kuschner) organisiert sie eine Demo gegen die Zwangsumsiedlung der Neuköllner Urbevölkerung nach Spandau. Das Musical "Linie 8" ist mitten aus dem Leben gegriffen und lässt kein Klischee aus, die Türkinnen im Fitnessstudio werden ebenso lustig persifliert wie die Muttis mit schwäbischem Migrationshintergrund oder Bezirksbürgermeister Buschkowsky. Pralles Volkstheater, das nie in die Betroffenheits- oder Sozialromantikfalle tappt, weil all die schrägen Frauentypen von Männern gespielt, getanzt und gesungen werden, virtuos und mit Hingabe, mit viel Herz und großer Schnauze. Die Spielszenen wechseln mit Videoeinspielungen, die auf Neuköllner Straßen und in U-Bahn-Tunneln gedreht wurden, ein dickes Lob an die BVG, die das möglich gemacht (und von satirischen Seitenhieben nicht verschont bleibt). Der Regie von Bernd Mottl gelingen sehr elegante Übergänge zwischen Filmszenen und Liveperformance, das ganze Tempo stimmt, man wird zweieinhalb Stunden lang glänzend unterhalten. Der Abend von Ades Zabel & Co. im BKA ist eine wunderbare Einstimmung auf laue Sommernächte in Kreuzberg und Neukölln!

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Termine und weitere Infos

Montag, 13. Mai 2013

Berlin für junge Leute 2013

Der Reiseführer Berlin für junge Leute (272 Seiten, 7,50 Euro, deutsch und englisch) erscheint dieser Tage in einer neuen Auflage, wie jedes Jahr hat Michael Bienert seinen Rundumblick über die Berliner Kulturszene aktualisiert; hier können Sie einen Auszug lesen.



Mittwoch, 8. Mai 2013

Im Theater (47): "Jeder stirbt für sich allein" beim Theatertreffen

Also war es doch ganz gut, die Theatertreffen-Eröffnung verpasst und sich Michael Thalheimers Medea-Inszenierung auf 3sat angeschaut zu haben. Ohrenzeugen der Aufführung klagen darüber, der Text sei nicht gut zu verstehen gewesen, einen "Transportschaden" vermutete ein Kritikerkollege: Die Freie Volksbühne ist zwar groß genug für fast alle Inszenierungen, die die Theatertreffen-Jury einlädt, aber sie ist nicht immer die erste Wahl, vor allem für kleinere, leisere und intimere Aufführungen. Vorm Fernseher war jedenfalls jedes der messerscharf gesetzten Worte zu verstehen und ich konnte mir ganz gut vorstellen, wie die Inszenierung im Idealfall live wirkt, vor allem mit der Erinnerung an die "Orestie" mit Constanze Becker im Hinterkopf, die Michael Thalheimer vor ein paar Jahren am Deutschen Theater inszeniert hat (hier können Sie die Kritik nachlesen).
Textverständnisprobleme gibt es bei Herbert Fritschs Murmel Murmel-Revue an der Volksbühne keine. So sehr hat mich die Premiere seinerzeit indes nicht vom Stuhl gerissen, dass ich die Einladung der Theatertreffen-Jury zwingend fand. Auch bei der Luc Perecevals Adaption von Hans Falladas Roman Kleiner Mann - was nun? vom Hamburger Thalia Theater stellt sich nicht das Gefühl ein, nun ganz großes Theater zu sehen. Doch in guter Erinnerung bleibt dieser Abend allemal. Geschichten erzählen braucht Zeit und die viereinhalb Stunden mit zwei Pausen werden einem nicht allzu lang, da das gesamte Ensemble und die ganze Inszenierung sich in den Dienst der Geschichte stellen. Die Schauspieler zitieren aus dem Roman und spielen auf fast leerer Bühne vor einer Art Riesenstadtplan der Bühnenbildnerin Annette Kurz, collagiert aus über tausend Alltagsgegenständen, wie von Bomben aus den Häusern auf die Straßen geschleudert. Thomas Niehaus und Oda Thormeyer spielen das alte Ehepaar Quangel, das im heimlich Verteilen von Postkarten mit Anti-Hitler-Parolen noch einmal zusammen findet, leise und unaufdringlich, ähnlich zurückgenommen wie André Szymanski den unglücklichen Kommissar Escherich, der ihnen auf die Spur kommt und sich das Leben nimmt, nachdem er von SS-Leuten gezwungen worden ist, den eingefangenen Quangel zu misshandeln. Alexander Simon und Daniel Lommatsch setzen als Drückeberger und  Gestapo-Spitzel komödiantische Ausrufezeichen. Moralisch degeneriert sind sie alle, das brutal-verlogene Nazisystem zwingt sie dazu, auch die Quangels sind keine Heiligen, aber sie verteidigen wenigstens ihre Menschenwürde und erleben das als spätes Glück. Sie hören auf Mitläufer zu sein - wann der Zeitpunkt dafür gekommen ist, diese existentielle Frage stellt sich nicht nur in Diktaturen.

Zum Weiterlesen: Der Theatertreffen-Blogger Clemens Melzer war unglücklich mit der Aufführung und watschte sie als Biedere Widerstandsromantik ab. So kanns einem gehen, muss aber nicht: Die gespannte Stille im letzten Drittel der gestrigen Aufführung spricht doch sehr dafür, dass die Botschaft beim Publikum ankommt.

Nächste Vorstellung am 12. Juni im Hamburger Thalia Theater

Mehr zum Programm des diesjährigen Theatertreffens von Michael Bienert lesen Sie hier.

Donnerstag, 2. Mai 2013

Das Theatertreffen wird Fünfzig

Festspiele-Intendant Thomas Oberender
und Theatertreffen-Leiterin Yvonne
Büdenhölzer stellten das Programm vor.
Dann feiert mal schön! Das Berliner Theatertreffen wird Fünfzig und hat ja allen Grund, stolz zu sein auf seine Leistungen als Kontakthof und Ideenbörse, Debattenforum und Karrierebeschleuniger. 1964 wurde es erstmals  ausgerichtet, um den Austausch zwischen Theaterleuten, Publikum und Kritik über herausragende Inszenierungen einer Saison zu fördern – und diese Funktion erfüllt es bis heute, mit in den letzten Jahren immer größerer Ausstrahlung über den deutschen Sprachraum hinaus.
Umso fragwürdiger die Entscheidung der Veranstalter, den Stückemarkt in diesem Jahr de facto ausfallen zu lassen. Zuletzt wurde viel investiert, dieses Forum für die zeitgenössische Dramatik aufzuwerten und zu einer Plattform für Nachwuchsautoren aus ganz Europa zu machen. Wurden im vergangenen Jahr noch 325 Dramen und Projektideen aus 31 Ländern zur Prüfung angenommen, hatten die hoffnungsvollen Nachwuchsdramatiker diesmal das Nachsehen. Denn es muss gefeiert werden, was das Zeug hält, auch wenn der Stückemarkt erst 35 Jahre alt wird. Also wurden Stückaufträge an 30 noch lebende Preisträger vergeben, die zusammen mit sogenannten „Archiven“ von fünf Autoren in einer dreitägigen Mammutveranstaltung präsentiert werden sollen. Die Unentdeckten dürfen aufs nächste Jahr hoffen.