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Freitag, 28. Juni 2013

Berlin ist zu groß für Berlin

Das neue literaturblatt für baden-württemberg ist da! Darin würdigt Michael Bienert zwei Ausnahmebücher der Berlin-Literatur, den "Literarischen Führer Berlin" anlässlich des 90. Geburtstages von Fred Oberhauser und den aktuellen Großessay Berlin ist zu groß für Berlin von Hanns Zischler.

Die Stadt unter den Sohlen
von Michael Bienert

Seit 250 Jahren knabbern die in Berlin ansässigen Schriftsteller an der Frage, was für ein seltsames Ding denn ihre Stadt sei. In der Zwischenzeit hat sich Berlin wiederholt bis zur Unkenntlichkeit vergrößert, verändert, ruiniert, zerstückelt, zusammengeflickt und wiederaufgebaut, so dass von allen Deutungsversuchen vor allem ein Bonmot haften blieb: Diese Stadt sei dazu verdammt, immerzu zu werden und niemals zu sein, so Karl Scheffler 1910 in seinem Großessay „Berlin. Ein Stadtschicksal“. Nun nimmt der Kenner und Liebhaber der Stadtpublizistik, der passionierte Flaneur, Kulturforscher und (bekanntermaßen) Schauspieler Hanns Zischler einen neuen Anlauf, das Drama der Berliner Stadtentwicklung durchschaubar zu machen. „Berlin ist zu groß für Berlin“ – der pointierte Buchtitel schließt wie ein Zauberschlüssel viele Berlin-Phänomene auf. An allen Ecken und Enden wirkt diese Millionenstadt unfertig. scheint nicht zu Ende gedacht, geplant, gebaut und dann wieder dem Zufall überlassen. Es sind die sichtbaren Spuren eines unkontrollierbaren Wachstums im 19. Jahrhundert und der politisch-ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, aber auch Symptome der aktuellen Misere. Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist die ehemals prosperierende Industriemetropole immer noch nicht wieder in der Lage, sich wirtschaftlich selbst zu tragen. Ohne Länderfinanzausgleich und Finanzspritzen des Bundes für die Hauptstadtkultur würde Berlin kollabieren. Lebensgefährliche Schlaglöcher in den Straßen, die Verwahrlosung des Stadtgrüns oder das Flughafenplanungschaos sprechen für Zischlers These, dass die aufgeblähte Metropole ihren Aufgaben schlicht nicht gewachsen ist.

Donnerstag, 27. Juni 2013

Berliner Kulturhaushalt: Die Freie Szene ist sauer - mit gutem Grund

Nach der Veröffentlichung der gestrigen Senatsbeschlüsse zum Kulturhaushalt in den kommenden beiden Jahren ist der Frust in der Freien Szene groß. Wir dokumentieren die Stellungnahme, die die Koalition der Freien Szene heute veröffentlicht hat: 


So qualitativ hochwertig, international anziehend und vielfältig die Kulturlandschaft Berlins derzeit noch ist, sie soll - wenn es nach dem Senat geht – nun zur Brache verkommen. Denn im nächsten Doppelhaushalt sind vom Kultursenator Klaus Wowereit trotz gegenteiliger Vorsätze der Regierungskoalition keine Investitionen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die überwiegend selbständigen Kunst- und Kulturschaffenden vorgesehen:
Kulturstaatssekretär André Schmitz: „Die Zuwendungen an die Freie Szene konnten mit ca.10 Millionen Euro auf dem bisherigen Niveau gehalten, im Bereich der Stipendienförderung sogar erhöht werden.“ Im Verhältnis zu dem in 2015 – im Wesentlichen für die Tarifanpassungen der Institutionen – auf 395 Millionen Euro anwachsenden Gesamtkulturetat entsprechen die unveränderten Zuwendungen für die Freie Szene in Höhe von 10 Millionen Euro nur noch ca. 2,5 %. Jetzt – solange die Freie Szene noch den Motor Berlins bildet, solange fünf von sieben Touristen wegen der Lebendigkeit und Vielfältigkeit der Kultur in diese Stadt kommen1 und den Ruf der Einmaligkeit dieser Stadt in alle Welt verbreiten - wäre es die Pflicht des Kultursenators gewesen, in der Freien Szene, wenn schon nicht ihren Beitrag zur Lebensqualität der Stadt, zumindest den Aspekt des Wirtschaftsfaktors zu erkennen und in sie zu investieren. Das erkennen die IHK und die DeHoGa.

Erfolg in Serie: "Cabaret" ist wieder da!

Nach zwei Jahren Spielpause ist während des Theaterferien-Sommerlochs im Tipi am Kanzleramt wieder das Berlin-Musical Cabaret zu sehen. Die höchst erfolgreiche Inszenierung ist inzwischen neun Jahre alt, wir fanden sie schon bei der Premiere ein wenig angestaubt, aber durchaus sehenswert. Die Besetzung wurde inzwischen mehrfach ausgetauscht. Hier Michael Bienerts Premierenkritik aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 25. Oktober 2004, erschienen unter dem Titel "Ein sauberes Cabaret":

Manche Theateraufführungen beziehen ihren unwiderstehlichen Reiz aus dem Ort, an dem sie stattfinden. Darauf spekulierten die Betreiber der Berliner "Bar jeder Vernunft", als sie das finanzielle Wagnis eingingen, ein aufwändiges Musical auf den Spielplan ihrer intimen Kleinkunstbühne zu setzen. "Cabaret" im Varieté: Diese Rechnung scheint aufzugehen. Schon vor der Premiere lagen tausende Kartenvorbestellungen vor, hatten die Wiener Festwochen die Produktion für das Jahr 2006 eingeladen. Die bloße Vorstellung, das Zwanziger-Jahre-Musical an kleinen Tischen im intimen Jugendstilambiente des Spiegelzelts serviert zu bekommen, wirkte bereits enthusiasmierend.
Da die Zuschauer dort nicht nur Voyeure vor einer Guckkastenbühne sind, sondern zugleich unentbehrliche Statisten im Kit Kat Klub des Stücks, beginnt die Inszenierung, sobald man den Mantel an der Garderobe im Vorzelt abgegeben hat. Während die Eintretenden ihre Plätze angewiesen bekommen, kulinarisch versorgt werden, Promis andere Promis begrüßen, erreichen Spannung und Raumtemperatur einen ersten Höhepunkt. Dieser Klub ist tatsächlich der "heißeste Platz in Berlin", wie es später im Text heißt. Verrucht, aber nicht verraucht. Sicherheitshalber werden die Aschenbecher vor Beginn der Musikdarbietungen eingesammelt, um die Stimmen der Künstler zu schonen.

Mittwoch, 26. Juni 2013

Noch mehr Geld: Auch der Bund will bei Kulturausgaben zulegen

"Das Bundeskabinett hat heute den Regierungsentwurf zum Haushalt 2014 beschlossen. Der Etat des BKM steigt dabei auf 1,207 Milliarden Euro, gegenüber dem Entwurf für 2013 entspricht dies einer Steigerung um rund 2,3 Prozent. Kulturstaatsminister Bernd Neumann konnte damit erneut - zum 9. Mal in Folge - die Ausgaben für Kultur steigern, obwohl der Gesamthaushalt im Zuge der Konsolidierungs- maßnahmen um 4,7 Prozent sinken soll. Kulturstaatsminister Bernd Neumann: „Der vorliegende Haushaltsentwurf dokumentiert erneut den hohen Stellenwert der Kulturpolitik für die Bundesregierung. Mit der Steigerung der Ausgaben für Kultur und Medien unterstreichen wir einmal mehr, dass wir es ernst meinen mit der Aussage dieser Koalition, dass Kulturförderung keine Subvention, sondern eine unverzichtbare Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Mit dem Regierungsentwurf wird gleichzeitig das politische Signal an die Bundesländer gegeben, auch in finanziell schwierigen Zeiten bei der Kultur keine Kürzung vorzunehmen.“ Soweit die Pressemitteilung der Bundesregierung.

Berliner Kulturetat wächst weiter - Opposition vermisst Stärkung der freien Szene

Kulturstaatsekretär André Schmitz ist zufrieden: Trotz Einbrüchen bei den Einnahmen Berlins durch die Ergebnisse des Mikrozensus, trotz Sparmaßnahmen wie der Absage der Bauausstellung 2020 sind im Doppelhaushalt 2014/15 steigende Kulturausgaben vorgesehen. Dazu erklärt die Kulturverwaltung: "Der Zuschuss für konsumtive Ausgaben erhöht sich um ca. 10 Millionen Euro von 367,9 Millionen Euro im Jahre 2013 auf 377,9 Millionen Euro für 2014 und um weitere 17 Millionen Euro auf 395,8 Millionen Euro im Jahr 2015. Das entspricht einem prozentualen Zuwachs von 2,7% in 2014 gegenüber 2013 und weiteren 4,7 % für 2015.
Der weitaus größte Anteil der Erhöhungen dient der notwendigen Anpassung der Tarifstrukturen für die Beschäftigten der Stiftung Oper, der Theater, Museen und Gedenkstätten und anderer öffentlich-rechtlicher Zuschussempfänger auf das Landesniveau sowie der Umsetzung der Mindestlohnregelung nach dem Berliner Vergabegesetz.
Die Zuwendungen an die Freie Szene konnten mit ca. 10 Millionen Euro auf dem bisherigen Niveau gehalten, im Bereich der Stipendienförderung sogar erhöht werden. Der Etatentwurf enthält Planungs- und Bauraten für den Bau der neuen Zentral- und Landesbibliothek und unterstreicht damit auch haushalterisch das Bekenntnis des Senats zu diesem kulturell bedeutsamen Bildungs- und Infrastrukturprojekt, dessen Grundsteinlegung damit noch in dieser Legislaturperiode erfolgen kann. Der Landesanteil für die jeweils zur Hälfte von Land und Bund finanzierten Einrichtungen wie die Stiftung Berliner Mauer, die Stiftung Topografie des Terrors und der Gedenkstätte Hohenschönhausen wurde in einem Maße aufgestockt, die dem steigenden Besucherinteresse gerecht wird." 

Die kulturpolitische Sprecherin der Grünen, Sabine Bangert, sieht die Beschlüsse kritisch. Sie zitiert den Koalitionsvertrag von SPD und CDU: "Der anhaltende Zuzug von Kunstschaffenden und Kreativen hat Berlin zu einem national und international ausstrahlenden Anziehungspunkt für Künstlerinnen und Künstler gemacht. Der weitaus größte Teil dieser Akteure ist selbstständig. Um diese Kreativszenen weiterhin anzuziehen und an Berlin zu binden, müssen die Rahmenbedingungen für die freie Szene – Räume, Produktionsmittel, Qualifikationen, Netzwerke – verbessert werden. Die günstigen Lebenshaltungskosten und insbesondere die Verfügbarkeit von preiswerten innerstädtischen Arbeitsorten sind die zentralen Bedingungen für den Erfolg Berlins als einem der wichtigsten Orte der Kunstproduktion. Die Koalition will die freie Szene verstärkt fördern. Sie wird daher verstärkt die Infrastruktur verbessern, wie z. B. der Ausbau von Ateliers oder die Sicherung von Probe- und Projekträumen." Dazu Sabine Bangert:
"Nun stellen wir fest, der Koalitionsvertrag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschieben wurde.
Zur Makulatur verkommen auch Ergebnisse, die z.B. im Rahmen des K2 Dialogs mit den Kreativen dieser Stadt für ingesamt 60.472,23 Euro erarbeitet wurden. 
SPD und CDU haben bis heute kein Konzept, wie die Potentiale der Kulturmetropole langfristig entwickelt werden sollen. Unter der Verantwortung des Regierenden Büürgermeisters ist ein kulturpolitischer Stillstand eingetreten. Kulturpolitik wird nicht gestaltet sondern es herrscht eine langweilige, maximale Problemvermeidungsstrategie. 
Es bleibt zu hoffen, dass das Parlament dem Vorschlag des Senats nicht folgt und entsprechende Veränderungen zur Stärkung der freien Szene im Haushaltsplan vollzieht."

Karl Philipp Moritz

"Er ist Philosoph und Weltbürger, dem es gar nicht einfällt, sein eigenes Ich zu schonen, wo es darauf abkommt, der Wahrheit und Schönheit zu huldigen", schrieb Schiller über den Schriftsteller, Altertumsforscher, Pädagogen und Zeitungsmacher Karl Philipp Moritz, der heute vor 220 Jahren in Berlin starb. Das Literaturforum im Brecht-Haus veranstaltet vom 15. bis 20. Juli eine Karl-Philipp-Moritz-Woche, die wir mit einem Stadtspaziergang ins Berlin der Spätaufklärung beschließen. Das Motto  "Unübersehbar ist die weite Fläche der Stadt" stammt aus einem Berlin-Gedicht von Moritz, das er Friedrich dem Großen widmete, um den König von den poetischen Möglichkeiten der deutschen Sprache zu überzeugen. Termin: 20. Juli, 14 Uhr, Anmeldung erforderlich unter Tel. 030-2822003. - Wegen der großen Nachfrage: Zusatztermin am 10. August 2013, 14 Uhr! Anmeldung erbeten unter moritz@text-der-stadt.de

Mittwoch, 19. Juni 2013

Im Theater (49): Herbert Fritsch inszeniert "Frau Luna" an der Volksbühne

Auf einem roten Fahrrad schwebt der Regisseur Herbert Fritsch beim Schlussapplaus über die Bühne - und wird von Schauspielern, Sängern und Publikum bejubelt, denn mit seiner Frau Luna-Inszenierung an der Volksbühne ist ihm ein großer Wurf gelungen. Der Paul-Lincke-Operette von den vier Berlinern, die mit einem Ballon zum Mond reisen, liefert das Gerüst für eine schrille Mischung aus Slapstick, Steptanz, Comedy, Clownszirkus und Musiktheater, fernab von Marschmusik und Schnulzenseligkeit. Der Musiker Ingo Günther hat die Hits von einst mit modernen Rhythmen und spacigen Synthesizersounds unterlegt, nur leider - und das ist die einzige Vergnügensbremse an diesem Abend - die Tonmischung nicht so hinbekommen, dass man die Sänger gut versteht. Hinreißend schräge Figuren gibt es viele zu bestaunen: Florian Anderer steppt als Fritz Steppke, was das Zeug hält, Ruth Rosenfeld gibt die große Verführerin als Frau Luna, Nora Buzalka ein aufgetakeltes Pfundsweib namens Pusebach. Hubert Wild bringt seinen Prinz Sternschnuppe zwischen Todtraurigkeit und totaler Lächerlichkeit zum Flirren. Den Chor holt Fritsch mit Fahrrädern auf die Drehbühne, eine von vielen genial  einfachen und wirkungsvollen Ideen. Am Schluss erklingt nicht das schmissige Das ist die Berliner Luft, sondern ein Memento Mori: "Ist die Welt auch noch so schön / einmal muss sie untergehn / darum springt / und genießt, was der Tag euch noch bringt..." Herbert Fritsch lässt es krachen, sein Ensemble springt und steppt und albert und singt, als gäbe es kein Morgen. Und das ist in dieser irren Konsequenz, menschenfreundlichen Radikalität und artistischen Hingabe nicht nur sehr unterhaltsam, sondern auch herzerwärmend.

Dienstag, 18. Juni 2013

Obama am Potsdamer Platz

Im Hotel Ritz Carlton (auf dem Foto links) verbringt Barack Obama die Nacht, angeblich hat er sich für das Hotel wegen des tollen Fitnessraums entschieden. Das Foto stammt aus unserem neuen Bildband Potsdamer Platz - am Puls von Berlin. Hätten wirs früher gewusst, wir hätten das ideale Kopfkissenbuch für Hotelgäste am Potsdamer Platz vorab ins Weiße Haus geschickt. Es enthält alle Texte auch auf englisch und in fünf weiteren Sprachen...

Studio Berlin

Die Straße Unter den Linden zwischen Schadowstraße und Brandenburger Tor hat sich in ein einziges riesiges Fernsehstudio verwandelt. Morgen um 6 Uhr wird der S-Bahnhof Brandenburger Tor geschlossen. Um 15 Uhr spricht Obama vor einer geschlossenen Gesellschaft. Immerhin: Jetzt lernen wir den ungeheuren Apparat aus nächster Nähe kennen, der hinter allen Medienauftritten des US-Präsidenten steht, aber in der Regel unsichtbar bleibt.

Dienstag, 11. Juni 2013

Ein Blick auf die Berliner Schlossbaustelle

Vor dem ins Staatsratsgebäude
eingebauten Schlossportal (Mitte)
entsteht das Fundament für die
Schlosskopie. Foto: Bienert
Von Michael Bienert - Sieben Bagger gleichzeitig kämpfen in der tiefen Baugrube gegen die Sandberge. An  gewaltigen Kranarmen schweben Stahlstreben wie filigrane Spaghettibündel über den Platz. Ameisenhafte Bauarbeiter dirigieren sie nach einem undurchschaubaren Plan. „Dort wird gerade die Fundamentplatte für das Schloss gegossen“, erklärt ein Mitarbeiter des Fördervereins Berliner Schloss das Bagger- und Kranballett, das draußen vor dem Fenster der Info-Box aufgeführt wird. „Da drüben, sehen Sie, da kommt einmal die Schlosskuppel hin. Und der U-Bahn-Tunnel wird in 22 Metern Tiefe drunter weg gebohrt, das berührt uns hier gar nicht. Der neue Bahnhof entsteht unter der Spree“. Mittendrin in dem Wimmelbild ist ein einzelnes Menschlein damit beschäftigt, aus roten Ziegelsteinen den Grundstein aufzumauern. Am Mittwoch kommt der Bundespräsident zu den offiziellen Grundsteinlegungsfeierlichkeiten für das neue Berliner Schloss. Seit einem Jahr schon wird am Fundament gebaut: 3000 Eichenpfähle, die das alte Hohenzollernschloss im morastigen Untergrund aufrecht hielten, mussten gezogen und neue Betonpfähle in den Boden gerammt werden. Man sei voll im Zeitplan, versichert die „Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum“, seit 2009 Bauherrin des Großprojekts.

Sonntag, 2. Juni 2013

Anish Kapoor im Berliner Martin-Gropius-Bau


Von Elke Linda Buchholz - Im Lichthof des Martin-Gropius-Baus ist eine riesenrote Sonne aufgegangen. Als Hommage an den Konstruktivisten El Lissitzky und seine abstrakte Grafikserie „Sieg über die Sonne“ hat der Bildhauer Anish Kapoor die geometrische Scheibe hoch oben auf ein Stahlgerüst geschraubt. Schwarze Balken stechen von allen vier Seiten diagonal in den Raum. Ganz im Sinne des maschinenbegeisterten Konstruktivismus sind sie nicht nur abstrakte Formelemente, sondern funktionieren zugleich als elektrische Förderbänder. Leise vor sich hin surrend befördern sie gewaltige, rote Wachsblöcke in die Höhe und lassen sie dann herabstürzen. Brutal zerplatzen die geometrischen Volumen mit dumpfem Knall am Boden zu einer amorphen Masse und türmen sich wie Schlachtabfälle zu stetig anwachsenden Haufen. Ein Work in Progress, das in den kommenden Monaten noch an Form gewinnt.
Der international gefeierte Bildhauer liebt die monumentalen Formate und überwältigt das Publikum schon allein durch die schiere Präsenz der Materialien. Seine neueste Installation hat er eigens für Berlin ersonnen, als Herzstück seiner ersten umfassenden Retrospektive in Deutschland mit 70 Werken aus den letzten 25 Jahren. Die Lichthof-Installation „Symphony for a Beloved Sun“ sucht bewusst den Dialog mit der Geschichte des Ortes, und zwar nicht nur mit El Lissitzky, der in den Zwanziger Jahren in Berlin lebte. Direkt neben dem Ausstellungshaus hält die „Topographie des Terrors“ die Wunden der deutschen Geschichte offen. Und auch Joseph Beuys ist in Kapoors Installation präsent: Der hatte im Lichthof 1982 einen gewaltigen Berg aus rohem Ton aufgehäuft – im Rahmen der legendären „Zeitgeist“-Ausstellung. Deren britischer Kurator Norman Rosenthal hat auch die jetzige Kapoor-Schau inszeniert. Als er vor vier Jahren in der Royal Academy London Anish Kapoors Werke zeigte, strömten 300.000 Besucher.