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Freitag, 22. November 2013

Berliner Nachkriegsmoderne - ein Colloquium und ein neuer Architekturführer

Die architektonische Nachkriegsmoderne in Ost und West hatte keinen guten Ruf, als vor 24 Jahren die Mauer fiel. Entsprechend sorglos ging Berlin danach mit dem baulichen DDR-Erbe in Mitte um. Aber auch das Stadtbild rund um die Gedächtniskirche, das Zentrum West-Berlins, hat sich durch Abrisse und neue Hochhäuser dramatisch verändert. Inzwischen ist die Euphorie über das gebaute Nachwende-Berlin verflogen, die abgeschlossene Bauepoche der Jahre 1945 bis 1989 wird erheblich differenzierter betrachtet und erfährt zumindest teilweise eine neue Wertschätzung. So hat der Berliner Senat im Sommer 2012 den Antrag gestellt, die ehemalige Stalinallee in Ost-Berlin und die Bauten der Interbau 1957 im Hansaviertel für die Liste des Weltkulturerbes zu nominieren.
Die Hermann-Henselmann-Stiftung definiert den baulichen Wettstreit zwischen Ost und West in Berlin retrospektiv als Koevolution der Moderne. Unter diesem Titel veranstaltet sie am 16. Dezember 2013 ein Colloquium in der von Henselmann geplanten Kongresshalle am Alexanderplatz: 

"An keinem anderen Ort der Welt hat die politische Konfrontation zwischen Ost und West so deutliche Spuren in Architektur und Städtebau hinterlassen wie in Berlin. Die Konkurrenz der beiden konträren Gesellschaftssysteme führte in Berlin bereits vor dem Mauerbau 1961 zu einem einzigartigen Wettstreit in Städtebau und Architektur. Über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren entstanden im ständigen Wechselspiel von Bau und Gegenbau nach Plänen renommierter Architekten beider Seiten einzigartige Wohnquartiere und Stadtensembles – im Osten an der Karl-Marx-Allee (vormals Stalinallee) und im Westen im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1957 (Hansaviertel, Corbusierhaus am Olympiastadion, Kongresshalle im Tiergarten, Akademie der Künste). Beiderseits des Brandenburger Tores an der großen Ost-West-Achse gelegen, repräsentieren sie in einmaliger Prägnanz, Dichte und Qualität die beiden seinerzeit international relevanten und durch die jeweiligen Besatzungsmächte geförderten Strömungen von Architektur und Städtebau der Nachkriegszeit.
Im Osten entwickelte sich an der Stalinallee ein dekorativer, regionaler Historismus (repräsentativer Boulevard mit «Wohnpalästen» und markanten Torplätzen), im Westen wurde mit der Interbau 1957 demonstrativ an die Internationale Moderne nach den Grundsätzen der Charta von Athen angeknüpft (aufgelockerter, durchgrünter Stadtgrundriss mit Wohnscheiben und Zeilenbauten verschiedener Maßstäbe). Während sich die DDR nach sowjetischem Vorbild Anfang der 1950er Jahre von der architektonischen und städtebaulichen Moderne abwandte, um keine zehn Jahre später, wiederum nach sowjetischem Vorbild, mit der Industrialisierung des Bauwesens nach und nach zu ihr zurückzukehren, vertrat der Westen lange Jahre uneingeschränkt das Konzept der `aufgelockerten und gegliederten Stadt´.
Was im geteilten Berlin der Nachkriegszeit politisch und ästhetisch in Konfrontation – als Bau und Gegenbau – entstand, lässt sich heute als Koevolution der Moderne zwischen Traditionalismus und Modernismus begreifen und als gemeinsames kulturelles Erbe neu deuten." Soweit der Ankündigungstext der Veranstaltung, hier finden Sie das Programm.

Noch weiter gespannt ist der Horizont in dem gerade neu erschienenen Architekturführer Baukunst der Nachkriegsmoderne. Berlin 1949-1979. Auch dieses Buch begreift das Bauen im geteilten Berlin als antagonistischen Prozeß, es gruppiert die vorgestellten Objekte daher nicht nach Ost oder West, sondern nach Funktionen: Kulturbauten, Geschäftsbauten, Hochschulen, Wohnanlagen usw. - So werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten an der Lösung vergleichbarer Bauaufgaben sichtbar. Eine abschließende Bewertung streben die Autoren nicht an. Erst einmal geht es darum, das Erbe der Nachkriegszeit neu wahrzunehmen und sich darüber klar zu werden, welche Qualität in den Gebäuden steckt. Wie die Bauten der Vorkriegsmoderne reagieren sie äußerst empfindlich auf Vernachlässigung und scheinbar geringe Detailveränderungen, was der reich illustrierte Band an etlichen Beispielen dokumentiert. Als Wegbegleiter für die Handtasche erheblich zu schwer, bietet sich das Buch eher als Nachschlage- und aktuelles Standardwerk an - und als Erinnerungsbuch an signifikante Bauten, die inzwischen der Abrissbirne zum Opfer gefallen sind wie das Schimmelpfeng-Haus an der Gedächtniskirche oder das Ahornblatt auf der Fischerinsel.

Adrian von Buttlar, Kerstin Wittmann-Englert und  Gabi Dolff-Bonekämper (Hrsg.):
Baukunst der Nachkriegsmoderne
Architekturführer 1949-1979
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2013
473 Seiten, 640 Abb., 29,95 Euro
Verlagsinformation

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