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Montag, 30. Dezember 2013

Im Theater (51): Michael Thalheimers "Tartuffe" an der Schaubühne

Von Michael Bienert - Bei der Uraufführung von Molières „Tartuffe“ am 12. Mai 1664 amüsierte sich der französische König prächtig – und verbot kurz darauf alle öffentlichen Aufführungen des Stücks. Zu brisant war die Darstellung eines Heuchlers, der sich als frömmelnder Gottesmann in eine Bürgerfamilie einschleicht und sie um Hab und Gut bringt. Mit der Kirche war nicht zu spaßen, sie war der größte Grundbesitzer in Frankreich und neben dem Militär die wichtigste Stütze der königlichen Macht. Molière kämpfte jahrelang um eine Freigabe des Stücks, er schrieb es um und klebte ihm eine versöhnliche Schlusswendung an: Der hellsichtige König selbst durchschaut Tartuffe als Betrüger und wendet in letzter Minute die Katastrophe von seinen Opfern ab.
Dass der Regisseur Michael Thalheimer diesen nicht sehr zwingenden Schluss streichen würde, war zu erwarten: Seine Figuren bleiben immer rettungslos verloren. Sie quälen sich durch eine Welt ohne Hoffnung, egal ob es sich um die Atriden handelt, um Goethes Faust oder Proleten aus Stücken von Hauptmann. Erlösung - nein danke! Und so steht in Thalheimers „Tartuffe“-Version zuletzt das Dienstmädchen Dorine einsam an der Rampe und spricht apathisch die Sätze: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Herr, es ist Zeit zu handeln, man hat dein Gesetz gebrochen.“ Die Antwort ist: Licht aus, Nacht, Schwärze.

So könnte auch jede andere Thalheimer-Inszenierung enden. Der Regisseur bleibt seinem Eigensinn treu und schmiedet die Komödie zum grotesken Endzeitdrama um. „Gestatten Sie uns noch ein letztes Wort“ - so begrüßt der Schauspieler Felix Römer das Publikum mit der passionierten Theatergängerin und frisch gebackenen Kulturstaatsministerin Monika Grütters in der dritten Reihe. Hart vor die Zuschauern hat der Bühnenbildner Olaf Altmann eine schwarze Wand hingestellt, mit einem hohen, aber nicht sehr tiefen Ausschnitt für die Schauspieler, dessen Wände wie feuervergoldet glänzen. Dieses Haus der reichen Familie Orgon ist nur mit einem schwarzen Ledersessel und einem schlichten Kruzifix an der Wand möbliert. Der Bühnenkasten neigt sich mit dem Fortgang bedenklich zur Seite, sinnbildlich für die aus dem Lot geratenden Familienverhältnisse. Irgendwann steht das ganze Haus auf dem Kopf und als Tartuffe alle Macht an sich gerissen hat, rotiert es um eine horizontale Achse. In diesem viereckigen Hamsterrad treibt der Heuchler die obdachlos gewordene Familie vor sich her.
Der Tartuffe von Lars Eidinger ist kein geschmeidiger Schlaukopf, sondern ein fanatischer Jesusjünger, langhaarig und bärtig, barfuß und schmuddlig, pennerhaft in einen alten Mantel gehüllt. Darunter schaut sein mit biblischen Botschaften tätowierter Körper hervor. Ein bisschen erinnert er an einen Derwisch und auch an einen Rocker der Siebzigerjahre, der seine Predigten zu martialischen Heavy-Metal-Sounds ins Publikum brüllt. Wieso bloß fällt Orgon (Ingo Hülsmann) auf diesen grobschlächtigen Jesusverschnitt herein? Hier klafft eine Glaubwürdigkeitslücke in der Inszenierung. Mit ihrem ungepflegten Langhaar und Siebziger-Jahre-Outfit (von Nehle Balkhausen) sind sich beide Männer brüderlich ähnlich, sie könnten zusammen in einer Metalband auftreten. Man reimt es sich so zusammen, dass Tartuffe eine Fähigkeit zur religiösen Autosuggestion besitzt, nach der sich Orgon immer gesehnt hat.
Was sich zwischen den Figuren abspielt, ist vor allem Sprachhandlung: Die Schauspieler reden meist ins Publikum, aber die Verse zielen direkt auf die Mitspieler. Man erlebt ein sehr stark verfremdetes, dennoch intensives Zusammenspiel via Sprache. Darin liegt ein großes Plus dieser Aufführung. Sie strahlt, wenn sich das Liebespaar Mariane (Luise Wolfram) und Valère (Tilman Strauß) mit Versen angiftet und Orgons Gattin Elmire (Regine Zimmermann) die Annäherungsversuche Tartuffes bloß mit Worten erst abwehrt, dann provoziert. Oder wenn Cléante (Kay Bartholomäus Schulze) vergeblich versucht, mit vernünftigen Argumenten bei Orgon durchzudringen. Ansonsten dürfen sich die Figuren durch eine groteske Körpersprache ausdrücken, durch bizarre Verrenkungen, Grimassen und unartikuliertes Greinen, Röcheln, Blabla. Zirkusreif sind Damis (Franz Hartwig) als Krümelmonster und Urs Jucker als total durchgeknallter Gerichtsvollzieher, ein Überraschungsjoker, den der Regisseur kurz vor Schluss dem Publikum hinwirft. Den stärksten Eindruck hinterlässt Judith Engel als Zofe Dorine, die scheinbar total abgestumpft ihre Verse aufsagt und dennoch keine Pointe liegen lässt.
Die Aufführung will die Komödie möglichst schwer, steinig und unbekömmlich machen, ohne das Publikum zu langweilen und zu verprellen. Ein heikler Balanceakt, der über weite Strecken gelingt, vor allem dank einer starken Ensembleleistung.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 24. Dezember 2013

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