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Freitag, 17. Januar 2014

Mark Twains Berlin

Von Michael Bienert - Mark Twain, der Erfinder von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, ist hierzulande  vor allem als Jugendbuchklassiker bekannt, aber seine literarische Karriere begann als Reiseschriftsteller. 49 Schiffsreisen über den Atlantik nach Europa, Afrika und Asien hat er während seines Lebens unternommen, einmal überquerte er den Pazifik. Schon zu Lebzeiten weltbekannt, trat er rund um den Globus als Vortragender und Vorleser auf, der mit seinem Humor große Auditorien zum Lachen brachte. Mehrmals hat er Deutschland besucht und im Winter 1891/92 mit seiner Frau und den beiden Töchtern einige Monate in Berlin gelebt.
Am 3. April 1892 erschien in der Chicago Daily Tribune sein Berlinporträt The Chicago of Europe: "I feel lost in Berlin. It has no resemblance to the city I had supposed it was. There was once a Berlin which I could have known, from descriptions in books - the Berlin of the last century and the beginning of the present one: a dingy city in a marsh, with rough streets, muddy and lantern-lightes, dividing straight rows of ugly houses all alike, compacted into blocks as square and plain and uniform and monotonous and serious as so many dry-good boxes. But that Berlin disappeared. It seems to have disappeard totally, and left no sign. The bulk oft the Berlin of today has about it no suggestion of a former period. The site it stands on has traditions and a history, bt the city itself has no traditions and no history. It is a new city; the newest I have ever seen."
Berlin als Vorposten der Moderne, als Kolonialstadt ohne Verwurzelung im historischen Boden - dieser Befund klingt nicht sehr originell, weil er im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von konservativen Kulturkritikern in Deutschland gebetsmühlenartig wiederholt wurde. Doch Twain stellte seine Diagnose erheblich früher und wählte den Vergleich Berlin-Chicago zu einem Zeitpunkt, als dieser noch kein Gemeinplatz war. Schon deshalb - und erst recht wegen der präzisen Beobachtungen Twains im Berliner Alltag um 1890 - handelt es sich bei The Chicago of Europe - um einen Schlüsseltext zur Wahrnehmungsgeschichte der werdenden Millionenstadt Berlin.

Andreas Austilat
Foto: Berlinica
Überraschenderweise ist die Entstehungsgeschichte dieses Textes nie wirklich gründlich untersucht worden. Das hat nun der Tagesspiegel-Redakteur und gelernte Historiker Andreas Austilat nachgeholt und dabei neben Zeitungsberichten über Twains Aufenthalt in Berlin einen unveröffentlichten Berlin-Text des Schriftstellers ans Licht gebracht. On Renting a Flat in Berlin handelt von der Wohnungssuche in Berlin, bei der Twain von einem pfiffigen Makler übers Ohr gehauen wurde. Viel zu teuer mietete er für sechs Monate eine Unterkunft in der Körnerstraße 7. Das Haus steht nicht mehr, aber der gründliche Rechercheur Austilat hat im Landesarchiv die Bauzeichnungen und Wohnungsgrundrisse gefunden. Eine andere wichtige Quelle war die Mikrofilmedition von Twains Nachlass in der Bancroft Library der University of California. Austilat ist Notizbucheintragungen, Briefen, den Erinnerungen von Familienangehörigen und Freunden nachgegangen und rekonstruiert das Netzwerk von Berliner Bekanntschaften, in dem sich Twain damals bewegte. Einmal war er beim Kaiser eingeladen, er war mit dem Pressesekretär Bismarcks und dem amerikanischen Botschafter gut befreundet, und er war Ehrengast bei den Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag der Wissenschaftkoryphäen Rudolf Virchow und Hermann von Helmholtz.
Mark Twain
Foto: Berlinica
Der Berliner Wissenschaftbetrieb beeindruckte den amerikanischen Gast  sehr. Er fühlte sich geschmeichelt, dass man ihn zweimal ansprach, weil man ihn für den berühmten Historiker Theodor Mommsen hielt (der 1902 als erster Deutscher den Literaturnobelpreis erhielt). Wie groß Twains Interesse an Geschichte war, belegt das Fragment einer Prosaerzählung über die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, die älteste Tochter Friedrichs des Großen.
Die Verlegerin Eva C. Schweitzer hat die Schauplätze von Twains Leben in Berlin fotografiert und neben historische Abbildungen gestellt. So ist das Buch einerseits ein Reiseführer geworden, der amerikanische Touristen an die Hand nimmt und auf den Spuren des großen Autors zum Brandenburger Tor und anderen Locations  führt. Die ungewöhnlich gründliche und genaue Recherche, die Arbeit mit sonst kaum benutzten Quellen macht es aber andererseits auch für Berlinologen lesenwert, die sich für das Berlin der Kaiserzeit und die Berliner Großstadtliteratur vor dem Ersten Weltkrieg interessieren.

Mark Twain / Andreas Austilat:
A Tramp in Berlin: New Mark Twain Stories & an Account of Twain´s Berlin Adventures in the German Capital.
Berlinica, New York
176 Seiten 
ISBN: 978-1-935902-92-8
Preis im deutschen Buchhandel 20 Euro (gebunden, Farbabbildungen) oder 13 Euro (Paperback, schwarzweiß, mäßige Druckqualität)

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