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Samstag, 31. Januar 2015

Im Theater (56): "Fabian - Der Gang vor die Hunde" im Studio der Schaubühne

Von Michael Bienert - Erich Kästners Großstadtroman Fabian ist gebaut wie eine Nummernrevue. Die Hauptfigur irrt von Kapitel zu Kapitel durch Kneipen, Vergnügungssäle, Bars, Büros, landet auf dem Kreuzberg, in einer Zeitungsredaktion, einem Rummelplatz und in den Betten lüsterner Berlinerinnen. Dabei begegnet er frustrierten Redakteuren, abgebrühten Ehemännern, Pennern und der großen Liebe. So plötzlich sie gekommen ist, so schnell ist sie wieder weg. Der beste Freund schießt sich wegen eines dummen Scherzes eine Kugel durch den Kopf und auch den Job verliert Jakob Fabian: Entmutigt verlässt er Berlin und stirbt in seiner Heimatstadt Dresden, als er versucht, ein Kind vor dem Ertrinken in der Elbe zu retten.
Erich Kästner wollte das Lebensgefühl Berlins und seiner jungen Generation in der Weltwirtschaftskrise einfangen, als er den Roman 1931 schrieb. Es passiert ständig was, es wird intensiv gelebt und geliebt, aber das Leben dreht sich im Kreis, die Wirtschaft trudelt bergab und der gesellschaftliche Zusammenhalt wird immer brüchiger. Jakob Fabian ist ein begabter junger Mann, doch ihm fehlt ein Ziel, und so vertreibt er sich die Zeit mit Feldstudien in der Großstadt. Die Erfahrungen im Berlin der Dreißigerjahre, die Kästner in seinen Roman eingearbeitet hat, sind nicht weit weg von denen junger Leute im heutigen Berlin. Im Studio der Schaubühne hat Peter Kleinert den Stoff mit sieben jungen Schauspielstudenten der Hochschule "Ernst Busch" fürs Theater inszeniert. Spielend gelingt es ihnen, die Aktualität des Buches zu entschlüsseln, indem sie ihre  eigenen Erfahrungen in den Betten, Clubs, Jobs und Hochschulen in die Inszenierung einbringen, sei es in den zahlreichen Rollen und Szenen, sei es im Dialog mit den Zuschauern.
Flott und kurzweilig ist dieser zweistündige Großstadtbilderbogen mit Gesangseinlagen. Für Tempo sorgt auch die Bühne von Peter Schubert, eine drehbare graue Wand, die von den Schauspielern angeschoben wie eine Drehbühne funktioniert und blitzschnelle Ortswechsel ermöglicht. Die vielen Rollen geben den Schauspielern reichlich Gelegenheit zu zeigen, was sie nach drei Jahren harter Ausbildung drauf haben: absolut professionelles Handwerk, beseelt von der Lust daran, durch die Inszenierung hindurch etwas vom eigenen Lebensgefühl zu erzählen. Jakob Fabian (Timocin Ziegler) ist ein netter Junge, der sich mehr aus Neugier von Frauen verführen lässt und dem der Biss fehlt, selber mehr aus seinem Leben zu machen. Sein Freund Labude (Tim Riedel) als studentischer als studentischer Weltverbesserer findet sich im wirklichen Leben einfach nicht zurecht, anders als die resolut auf Männerfang gehende Irene Moll (Janine Meißner). Llewellyn Reichman als Cornelia Battenberg ist eine prima Besetzung als Traumfrau von nebenan, die den Verlockungen einer großen Filmkarriere nicht widerstehen kann, obwohl sie sich dafür prostituieren muss. Stella Hinrichs stöckelt als durchgeknallte Theaterkritikerin durch den Abend, Gregor Schulz und Floran Donath sind in herrlich schrägen Kleinrollen als Journalisten, Direktor oder Erfinder dabei. Was sie auf der kleinen Werkstattbühne zeigen, würde jedem Stadttheater zur Ehre gereichen - so dass man sich um den weiteren Berufsweg der jungen Leute, die sich derzeit noch mit 80 Euro Gage pro Abend zufrieden geben müssen, eher keine Sorgen machen muss. Fabians Untergang zuzusehen, ist ein großes Vergnügen.

Mittwoch, 21. Januar 2015

Chamisso-Preisträger 2015

Sherko Fatah. Foto: Yves Noir
Sherko Fatah erhält den mit 15.000 Euro dotierten Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015 für sein bisheriges Gesamtwerk, insbesondere für seinen jüngsten Roman „Der letzte Ort“ (Luchterhand 2014), in dem er von der Entführung eines Deutschen und seines arabischen Übersetzers im Irak erzählt. Darin habe Sherko Fatah „der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ein neues und hochaktuelles Themenfeld erschlossen“, erklärt die Jury. Die diesjährigen Förderpreise in Höhe von jeweils 7.000 Euro erhalten Olga Grjasnowa für ihren zweiten Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ (Hanser 2014) sowie Martin Kordić für seinen Debütroman „Wie ich mir das Glück vorstelle“ (ebd. 2014). Mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ehrt die Robert Bosch Stiftung herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist. Die Preisträger verbindet zudem ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit Sprache. Damit ist der Preis der einzige seiner Art in Deutschland. 2015 wird er zum 31. Mal verliehen.

Stille Winkel im Radio

Autor trifft Maus im
ARD-Hauptstadtstudio
Für ein dreistündiges Radiofeuilleton zum Thema "Ruhezonen - Stille Orte" hat sich Michael Bienert mit der Moderatorin Stefanie Junker über stille Orte in Berlin unterhalten. Sendetermin: SWR2, Sonntag, den 25. 1. 2015, ab 9.03 Uhr.

Hier können Sie das Gespräch hören.

Im Verlag Ellert & Richter ist weiterhin lieferbar:

Michael Bienert
Stille Winkel in Berlin
Gebunden, 128 Seiten, 12,95 EUR
Ellert & Richter Verlag, 2. Auflage, 2009

"Jeder hält die Hauptstadt für die rastlose, atemlose, haltlose Metropole, doch in Wahrheit ist sie das genaue Gegenteil: unter allen großen Hauptstädten die gemächlichste, bedächtigste, langsamste ... So ist es ein Dienst an der Wahrheit, dass dieses Buch den stillen Winkel Berlins ein Loblied singt..." FRANKFURTER ALLGEMEINE

KÄSTNERS BERLIN mit Sekt und Menü

Heute stellt Dorothee Nolte im TAGESSPIEGEL das neue Buch von Michael Bienert ausführlich vor - und lädt zur Buchvorstellung mit Sekt und Zwei-Gang-Menü ins Redaktionsgebäude ein. Termin: 17. Februar 2015, Preis 20 Euro. Zum Artikel und zur Anmeldung

Samstag, 10. Januar 2015

Im Theater (55): Pünktchen trifft Anton im Grips-Theater

Von Michael Bienert - "Das beste wird sein, Sie schreiben über Sachen, die Sie kennen. Also von Untergrundbahn und Hotels und solchem Zeug. Und von Kindern, wie sie Ihnen täglich an der Nase vorbeilaufen, und wie wir früher einmal selber einmal waren." Das rät in Emil und die Detektive der Oberkellner Nietenführ dem Autor, der ein Kinderbuch schreiben soll. Volker Ludwig, Gründer des Grips-Theaters, zitiert den Ober auf dem Programmzettel seiner Theateradaption von Pünktchen und Anton und fügt augenzwinkernd hinzu, dies seien "die einzigen und wahren theoretischen Grundlagen des Grips-Theaters".

2011 hatte Volker Ludwigs Stück Pünktchen trifft Anton Premiere und es hat in der Zwischenzeit noch an Aktualität gewonnen: Denn in der Grips-Fassung sind Anton und seine Mutter nicht nur arme Leute wie in Kästners Roman von 1931, sondern Flüchtlinge ohne Aufenthaltserlaubnis, also genau die Leute, die Pegida-Anhänger und Rechtsextreme nun wieder zum Sündenbock machen für alles, was ihnen in diesem Land nicht passt. Anton (Kilian Ponert) ist ein hoch begabter Schüler, dem buchstäblich das Lachen vergangen ist unter dem Druck der Angst, mit seiner Mutter abgeschoben zu werden. Freudlos wühlt er in Mülltonnen, um etwas zum Essen und Pfandflaschen zu finden. Dass er durch Pünktchen (Maria Perlick), das verwöhnte Mädchen aus einer Grunewaldvilla, wieder das Lachen lernt, gehört zu den anrührenden Momenten der Inszenierung von Frank Panhans.

Autor und Regisseur gehen sehr frei mit der Romanvorlage um, aber eben deshalb gelingt ihnen eine völlig schlüssige Übertragung der Handlung ins heutige Berlin und damit auch der pädagogischen Intention des Autors Erich Kästner: Die räumliche Trennung und die Sprachlosigkeit zwischen Arm und Reich in der Stadt wird durch zwei Kinder überwunden, die sich einfach mögen. Antons Mutter (Regine Seidler) ist aus politischen Gründen aus Weissrussland geflohen und in Berlin untergetaucht. Pünktchens Vater (René Schubert) scheffelt Geld mit Immobilienspekulation, während die Mutter sich daran gefällt, Flitterjäckchen zu kaufen und Charity-Events zugunsten notleidender Afrikaner zu organisieren - doch für die Bedürfnisse ihres eigenen Kindes ist sie blind. Sehr klug ist auch der Kunstgriff, Pünktchens Gouvernante im Roman durch ein schräges amerikanisches Au-Pair-Mädchen (Alessa Kordeck) zu ersetzen. Die Seele des Hauses und Ersatzmutter für Pünktchen aber ist Berta, die Haushaltshilfe (wunderbar humorvoll gespielt von Michaela Hanser).

Eine kurzweilige und herzerwärmende Aufführung in bester Grips-Tradition, durchdachter und in sich schlüssiger als die meisten Romanadaptionen auf deutschen Bühnen, die oft nur ein Abklatsch der Vorlage sind. Hier ist es wirklich gelungen, ein prominentes literarisches Werk achtzig Jahre später für das Theater und für die Kinder von Berlin noch einmal neu zu erfinden - das hat nicht nur den Kritiker begeistert, sondern auch die 13-jährige Kästner-Kennerin an seiner Seite.

Weitere Informationen und Spielplan des Grips-Theaters

Donnerstag, 1. Januar 2015

Elektropolis Berlin

Elektrizität gehört so selbstverständlich zum Alltag der Großstadt wie die Luft zum Atmen: Ohne sie gäbe es keine Straßenbeleuchtung, keinen U- und S-Bahn-Verkehr, kein Internet. Dabei hat die Elektrotechnik erst seit etwa 130 Jahren alle Lebensbereiche infiltriert. Die "Musterstadt der metropolitanen Elektrifizierung" war bis zum Zweiten Weltkrieg Berlin. Die Entwicklung der Elektrotechnik und das Wachstum der Millionenstadt gingen Hand in Hand, beides ist bis heute im Stadtbild sichtbar geblieben. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Berliner Elektroindustrie weltweit führend in dieser Branche und auch später noch ein "Global Player" mit 235.000 Beschäftigten an der Spree im Jahr 1939. Ein vom Landesdenkmalamt herausgegebener Führer stellt nun 450 Bauwerke der "Elektropolis Berlin" vor: Fabriken, Firmenrepräsentanzen, Kraft- und Umspannwerke, Fernsprechämter, BVG-Betriebshöfe für Straßen- und U-Bahnen, ausgewählte S-Bahnhöfe, aber auch  Siedlungen und Sozialeinrichtungen für die Beschäftigten der einschlägigen Unternehmen. Viele Gebäude werden heute für andere Zwecke genutzt, weil die Betriebe nicht mehr existieren oder technische Anlagen modernisiert wurden - das Buch macht sie als Bausteine der "Elektropolis" wiedererkennbar.  Auch Betriebe und Siedlungen im Brandenburger Umland sind berücksichtigt. Keine Frage, dieses Inventar ist ein gewichtiges Standardwerk zum Thema, darüber hinaus aber auch ein (von Ben Buschfeld) vorbildlich gestaltetes und anregendes Buch mit großartigen historischen Fotos, Karten und sogar ganz konkreten Routenvorschlägen für Flaneure - und das zu einem so unschlagbar günstigen Preis, dass es sich jeder leisten kann, der sich für Berliner Architektur- und Technikdenkmale interessiert.

Landesdenkmalamt Berlin (Herausgeber)
Elektropolis Berlin
Architektur- und Denkmalführer
von Thorsten Dame
mit Beiträgen von Matthias Baxmann, Katharina Beckmann, Nadine Bittner,
David Derksen, Konstanze Dyck, Jessica Hänsel, Robert Haesecke-Diesing, Claudia Hain, Gisbert Knipscheer, Tanja Kastowski, Ann-Kristin Kirsch, Tina Kühn, Florian Leitner, Ines Oberhollenzer, Mirco Schneider
Gestaltung: buschfeld.com – graphic and interface design
19,5 x 24,0 cm, 544 Seiten, Hardcover
450 Objekte im Porträt, 6 Routenvorschläge, Anhang und Register
680 Duotone-Abbildungen, 47 Karten und Lagepläne
Preis 29,95 Euro
Michael Imhof Verlag
ISBN 978-3-7319-0132-7 


Weitere Informationen: http://www.imhof-verlag.de/architektur-und-denkmalfuehrer-elektropolis-berlin.html

Irgendwie geht es immer weiter...

... auch wenn Berlin sich nicht so anheimelnd anfühlen will. Das Silvesterfoto aus Pankow mit den bunten Lichtern auf der schneenassen Friedrich-Engels-Straße stammt von unserem Hausfotografen Leon Buchholz. In diesem Sinne: Alles Gute für 2015!