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Sonntag, 11. März 2018

Im Theater (64): Brechts "Kreidekreis" als Fluchtgeschichte am Berliner Ensemble

Von Michael Bienert - Wer eine E-Gitarren-Allergie hat, muss um diese Inszenierung einen Bogen machen. Wer die Leadgitarre von Jimmy Page in Led Zeppelins "Dazed And Confused" schon immer liebte, kommt ganz sicher seine Kosten. Gut eineinhalb Stunden dröhnt, jault, zirpt und singt es aus dem Gitarrenverstärker ganz hinten auf der leeren Bühne des Berliner Ensembles, manchmal an der Schmerzgrenze. Der Gitarrist Kai Brückner baut live für die Ohren das fehlende Bühnenbild zu Brechts "Kaukasischem Kreidekreis" in der Regie des Hardrock-Liebhabers Michael Thalheimer. Es ist eine der Inszenierungen, mit denen Intendant Oliver Reese das Berliner Ensemble vor einem halben Jahr wiedereröffnet hat, die erste Brecht-Inszenierung unter der neuen Intendanz. Wie geht es weiter mit der Brecht-Aufführungstradition an diesem Haus, von dem - komme was da wolle - immer noch wegweisende Brecht-Inszierungen erwartet werden?

Der schroffe Sound, der raue Ton dieses "Kreidekreises" erinnern an die erfolgreichste Aufführung des Berliner Ensembles der Nachwendezeit, den bisher mehr als 400 Mal wiederholten "Arturo Ui" von Heiner Müller mit Martin Wuttke in der Hauptrolle. So wie Wuttkes irre Spielwut die grobe Politfarce davor rettete, eingemottet zu werden, so stemmt Stefanie Reinsperger als Grusche Vachnazde den Abend fast alleine, ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Kreide-, nein Blutkreises. Reinspergers stämmige Figur in hellblauer Schürze, die Arme nackt, die Füße in groben Socken und Sandalen, das flachsblonde Haar zu meterlangen Zöpfen geflochten, so kommt Grusche wie die Karikatur einer korpulenten Dienstmagd daher. Aber unter dieser maskenhaften Zurichtung schlägt ein großes Herz, kämpft das Muttertier bis zur totalen Erschöpfung und Verzweiflung um das Kind, das ihr in den Arm gelegt worden ist. Grusches Geschichte, das ist in dieser Aufführung vor allem die Geschichte einer langen, langen Flucht vor Krieg und Verfolgung. Unterwegs wird Grusche ausgebeutet, von Soldaten vergewaltigt, muss eine Scheinehe eingehen und verliert so den Mann, den sie liebt. Schließlich wird ihr das Kind weggenommen, das sie die ganze Zeit beschützt hat: Brechts Lehrstück über die Schwierigkeiten, in die ein verantwortungsvoller Mensch in finsteren Zeiten gerät, läuft zielsicher auf eine Scheitern Grusches hinaus, auf eine proletarische Tragödie.
Um die warmherzige Magd herum kommen und gehen fratzenhafte Figuren: Peter Luppa als Großfürst, geiziger Milchbauer und geschäftstüchtige Schwiegermutter, Sina Martens als kalte Schicke-Micki-Mutter und Bauersfrau, Carina Zichner als brutaler Soldat, Nico Holonics als enttäuschter Verlobter, ferner Veit Schubert und Felix Rech (als Ersatz für den erkrankten Sascha Nathan), jeder virtuos in je vier weiteren Nebenrollen. Alles Charaktermasken, verhärtet, in einer Gesellschaft und einer Kriegszeit, die zur Herzlosigkeit erzieht. Ingo Hülsmann im weißen Anzug begleitet das Geschehen als desillusionierter Kommentator am Mikrofon, ohne falschen Belehrungston.
Ein grotesker Deus ex machina rettet Grusche und ihr Kind aus dieser dröhnenden Dunkelheit: Der Richter Azdak (Tilo Nest) ist ein über und über tätowierter Mann aus dem Volk, von Justiz hat er keine Ahnung, ein glücklicher Zufall hat den schrägen Vogel auf den Stuhl eines gelynchten Richters gebracht. Halbnackt, blutig und unter einer schwarzen Wuschelperücke übt er sein Amt aus. Der Kreidekreis ist hier ein Kreis aus vergossenem Blut und die mitfühlende Grusche schafft es nicht, die geliebte Kindspuppe der leiblichen Mutter mit Gewalt zu entreißen. Fast beiläufig spricht Azdak der Grusche dann doch das Kind zu. Denn "gehören soll, was da ist / Denen, die für es gut sind", so formulierte Brecht am Ende die Botschaft des Stücks. Den plakativen Appell hat der Regisseur Michael Thalheimer - nicht überraschend - gestrichen, die skandalöse Botschaft Brechts jedoch wird im Überlebenskampf der Grusche und ihrem totalen Einsatz für das Wohlergehen des fremden Kindes plausibel. Und auch Brechts Idee eines "gestischen" Theaters, das Wirklichkeit nicht simuliert, sondern mit ganz eigenen theatralischen Mitteln und Möglichkeiten eine lehrreiche Parallelwelt erschafft, findet hier eine zeitgemäße Form. Was am "Kreidekreis" aktuell und zeitlos ist, bringt dieser sehenswerte Theaterabend schroff und lautstark auf den Punkt.

Aufführungstermine: www.berliner-ensemble.de

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