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Montag, 19. März 2018

Im Theater (65): Sandra Leupold inszeniert Sciarrinos "Die tödliche Blume" in Lübeck

Theater Lübeck
Von Michael Bienert - Ist das schon Musik oder nur ein Nebengeräusch vom Sitznachbarn? In Salvatore Sciarrinos Oper "Die tödliche Blume" stellt sich diese Frage unvermeidlich. Fünffaches Pianissimo, das aus der Lautlosigkeit kommt und wieder aushaucht, wird den Musikern mehr als einmal abverlangt. Dabei sollen sie den Instrumenten laut Partitur höchst unkonventionelle Klänge entlocken. So erinnert der Orchesterklang bisweilen an elektronische experimentelle Musik der 1960er Jahre: Wie das brummt, haucht, sirrt, rappelt und trappelt, oft an der Grenze der Hörbarkeit, und wie sich das mit dem Räuspern und den Magengeräuschen des Nebenmenschen im Publikum vermengt!  Mucksmäuschenstill ist das geduldigste Opernpublikum nicht, und im Lübecker Stadttheater sitzen weniger Neue-Musik-Fanatiker als betagte Operngänger. Dass sie sich hörend wahrnehmen, ist vom Komponisten ganz sicher mitbedacht, ja erwünscht. Denn seine Oper soll nichts übertönen, sondern im Gegenteil: Sciarrino will den Hörsinn schärfen und damit die Welt ein bisschen besser machen. Sensibilisierung für das Ausgeblendete, Überhörte, nicht als Klang und Musik Akzeptierte ist das pädagogische Ziel. Weswegen das Publikum schon vor Beginn der Vorstellung im Foyer an Hörstationen Stimmen lauschen oder durch eine mit bunten Eierkartons ausgeschlagene Hörmuschel kriechen darf, in der das Geräusch der Menge von Schritt zu Schritt eine andere Farbe annimmt.

Wenn das Hören des Unerhörten den Dreh- und Angelpunkt einer Oper darstellt, die im italienischen Original "Meine trügenden Augenlichter" (Luci mie traditrici) heißt, was gibt es da für eine Opernregisseurin inszenieren? Sandra Leupold ist eine Theaterverrückte, die Partituren lesen kann (was in der Opernregie nicht selbstverständlich ist) und sich mit besonderer Hingabe von einem Komponisten leiten lässt, der gegen alle Opernroutine anschreibt. Sie mutet den Sängern nichts zu, was die Konzentration auf die Erzeugung äußerst ungewöhnlicher, aber hoch expressiver Gesangslinien stören könnte. Zeitlupenhaft umkreisen sie einander, sind stets in minutiös choreografierter Bewegung, aber innerhalb eines minimalistischen Radius. Dabei geht es doch um ganz große Gefühle: Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Tod - in einer freilich kolportagehaften Story. Sciarrinos Libretto basiert auf einer Eifersuchtstragödie aus dem 17. Jahrhundert, die Dialoge des Kammerspiels sind indes extrem reduziert - so als seien die Figuren aus den "Fragmenten einer Sprache der Liebe" von Roland Barthes destilliert. Die hybride Mixtur aus simplen Sätzen voller Leidenschaft, Gesang an an der Grenze des Möglichen und den umspielenden Klanggebilden aus dem Orchestergraben erzeugt eine untergründige Spannung, die sich nach einer guten Stunde im großen Schlussbild mit drei Eifersuchtsmordopfern auf großer Bühne entlädt.

Bis dahin bewegen sich die Figuren in sehr engen Bühnenausschnitten, die einen Garten, eine Bibliothek oder ein Schlafzimmer mittels einer gemalten Kulissenbühne (von Martin Kukulies) andeuten. Die Kulissen sind nur teilweise ausgemalt, wirken so fragmentarisch wie der Gesang und die Orchesterklänge. Die Kostüme von Mechthild Feuerstein verorten die Gräfin und den Grafen, ihren Gärtner und einen Verehrer zunächst im Barockzeitalter, von Bild zu Bild kaum merklich verändert dann im Klassizismus, im Biedermeier und ganz zuletzt in der Gegenwart. Das alles ist klug zusammengefügt und hält eher auf Abstand. Anteilnahme und Wärme in diesen Opernabend bringen Violetta Hebrowska (Gräfin) und Otto Katzameier (Graf) als Gesangartisten, die ihre kaum möglichen Partien (wie geht das überhaupt?) beherrschen und mehr als das. Da spürt man eine Lust auf eine extreme (Sänger-)Erfahrung, welche auf die eher schemenhaften Rollen abfärbt und sie verlebendigt. In weiteren Rollen gelingt das auch Steffen Kubach (Diener) und Christian Rohrbach (Gast): Wir sehen und hören vier von Liebesangst gepeinigte, in ungewöhnlichsten Tönen sich aussprechende Figuren, ahnend, dass es am Ende kein Glück und keinen Gewinner gibt.

Der Abend beginnt mit einer Stimme hinter dem Vorhang (Caroline Nkwe), die unbegleitet eine anrührende Elegie aus dem 16. Jahrhundert singt. In drei Intermezzi des Orchesters wird dieser Wohlklang zitiert und transformiert, bis er vor dem letzten Bild in einer röchelnden Klangwolke erstirbt. Dieter Holm dirigiert das aus Mitgliedern der Lübecker Philharmoniker zusammengestellte Ensemble, als wäre die wunderliche Partitur auf seinem Pult das Selbstverständlichste von der Welt. Extrem gefordert sind nicht alleine Dirigent,Musiker und Sänger, die sich keine halbe Sekunde auf ihrer Routine ausruhen dürfen. Auch dem Publikum fordert diese "Neugeburt" der Musiktragödie (so der Komponist) ein Höchstmaß an Wachheit ab. Ein Risiko, obwohl Sciarrinos Oper inzwischen des Öfteren aufgeführt worden ist und als moderner Klassiker des Repertoires gelten darf. Das Lübecker Premierenpublikum gab nicht auf, es quittierte den feinen Opernabend nicht mit euphorischem, aber mit respektvollem und freundlichem Applaus.

Aufführungstermine und weitere Informationen


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